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Eine Erzählung von Gerda Mathoi

In der Wenner Gemeindezeitung wurde im Dezember 2009 die Lebensgeschichte von Gerda Mathoi veröffentlicht. Mit eindringlichen Worten beschreibt sie auch die große Not, die in den Zwischenkriegsjahren bei vielen Südtiroler Familien herrschte.

Ihre Eltern, Ignaz Seebacher und Albertina Ziernhöld, zogen vom Bruggerhof bei Bozen, über Goldrain, Taschars nach Naturns im Vinschgau. Die Italienisierung Südtirols wurde immer aggressiver und so optierte 1940 die Familie in Richtung Innsbruck und fand schließlich in Wenns im Pitztal eine neue Heimat.

DIE AUSWANDERER

Gerda, eigentlich ist ihr Taufname Gertrud, wurde am 5. Mai 1927 in Bozen geboren. Ihre Mutter Albertina geborene Zirnhöld stammte von Reschen, ihr Vater Ignaz Seebacher erblickte 1892 am Ritten die Welt. Gerda hatte drei Brüder und fünf Schwestern. Sie ging mit ihrer Schwester Luise in Oberau in den Kindergarten und später in die Marienschule in Bozen. Dort wurde, wie überall im damaligen Südtirol, nur in italienischer Sprache unterrichtet.

Ihr Vater verwaltete den Bruggerhof, der dem Grafen Toggenburg gehörte. Anfangs gab es noch sechs Knechte und sieben Mägde, aber mit der zunehmenden Italienisierung Südtirols durch Mussolini verschwanden einige Dienstleute und Ignaz musste viele anfallende Arbeiten selbst bewältigen. Zum Gutshof gehörten Wald, Obstgärten und Weinberge, die er in der Nacht oft bewachen musste. Auf die Frage, ob sie den Grafen gesehen hat, meinte Gerda: „Um den haben wir Kinder uns gar nit gekümmert!“

1934 kam der Vater von seiner Arbeit abends nicht nach Hause. Knechte wurden ausgeschickt ihn zu suchen. Diese fanden ihn dann spät in der Nacht blutüberströmt, von „Walschen“ halb erschlagen. Da der Graf schon nach Deutschland geflüchtet war, hielt die Familie Seebacher jetzt nichts mehr am Gutshof und sie übersiedelten nach Goldrain. Dort mieteten sie eine Brandstatt, zu der auch Grund und Boden gehörte. Zweieinhalb Jahre arbeitete die Familie hart, um die Landwirtschaft wieder aufzubauen und das Wohnhaus herzurichten. Als schließlich neun Stück Vieh im Stall standen und das Haus wieder bewohnbar war, wurden sie von der Vermieterin regelrecht verjagt, da ihre Tochter einen Italiener heiratete. Sie mussten alles zurücklassen, ihre wenigen persönlichen Habseligkeiten verstauten sie auf einem geliehenen Leiterwagen und wanderten nach Tschars. Dort pachteten sie wieder eine Brandstatt, zu der auch ein Kastanienwald gehörte. „Am ersten Tag mussten wir im Freien übernachten. Der Hof war schon fünf Jahre nicht mehr bewirtschaftet worden, in der Küche hatten die Bauern aus dem Dorf ihre Goaß und Schaf untergebracht. 40 cm hoch lag dort der Mist, wie betoniert, den mussten wir am nächsten Tag heraus hacken. Wir hatten kein Brett für das Dach, sodass es oft hereinregnete. Der Vater pflanzte dann Erdäpfel, Trauben und Obstbäume, aber das Leben gerettet haben uns die Kastanien, die es gekocht täglich zu essen gab, Brot kannten wir nicht. Eines Tages kam ein Nachbar vorbei, um zu schauen, wer jetzt auf dem Hof wohnt. Als er die vielen Kinder sah und kein Stück Vieh im Stall, fragte er die Mutter, ob sie denn Milch für uns habe. Als sie verneinte, brachte er uns eine Kuh, die wir leihweise behalten durften. Ab diesem Tag bekamen wir neben Kastanien auch Milchribelesuppe zum Essen. Als die Kuh eines Tages ein Kalb bekam und dieses wie leblos auf dem Misthaufen lag, schickte uns die Mutter in die Kirche, um für das Kalb zu beten. So andächtig habe ich mein ganzes Leben lang nicht gebetet und wie durch ein Wunder blieb das Kalb am Leben. Das Wasser zum Trinken und Kochen und auch zum Bewässern der Felder holten wir aus einer Zisterne, in der auch Schlangen hausten, vor welchen ich panische Angst hatte. Als wir eines Tages von der Schule nach Hause kamen, saß unsere Mutter am Küchentisch und weinte. Auf die Frage, was sie denn habe, antwortete sie: ‚ich habe gar nichts mehr zum Kochen, geht in den Garten und holt euch einen Salatkopf. Die Lehrerin in der Dorfschule bemerkte an diesem Tag unser Elend und von da an bekamen Luise und ich jeden Tag ein Stück Schwarzbrot, das wir heimlich in ihrem Zimmer essen durften. Auch bemühte sie sich um eine Lebensmittelzuteilung für unsere Familie: So erhielten wir monatlich 1kg Reis und 2kg Polenta, was wir von Kastelbell abholen mussten. Wir hatten gerade genug zum Essen und konnten nichts verkaufen und hatten deshalb auch kein Geld. Mamas jüngster Bruder schickte uns monatlich 100 Lire, sodass wir die Pacht bezahlen konnten. Als dieser jedoch einrücken musste und kein Geld mehr schicken konnte, waren wir nicht mehr in der Lage, die Pacht zu bezahlen. Wir wurden wieder vom Hof gejagt und zogen nach Naturns. Mama schrieb von unserer Not nach Hause. Zwei ihrer Brüder kamen und nahmen mich und noch drei Kinder mit auf den Reschen zu unserer Großmutter. Am gleichen Tag, als diese verstarb, kam unsere jüngste Schwester Mena in Naturns auf die Welt. Alle, die sich weigerten, einen italienischen Namen anzunehmen, mussten Südtirol verlassen, Tausende wurden abgeschoben. Unser Vater hatte auch beschlossen, Südtirol zu verlassen und holte uns wieder alle zusammen. 1940 fuhren wir mit einem Auswandererzug von Bozen nach Innsbruck. Dort wurden wir am Bahnhof mit Fanfaren empfangen und zum Frühstück ins damalige Hotel Europa gebracht. Wir glaubten, im Paradies zu sein, wir bekamen Semmel, Butter und Marmelade und konnten uns richtig satt essen. Gewohnt haben wir im Gasthof Goldene Rose unter den Lauben. Als Hitler mit dem Zug durch Innsbruck nach Italien zu Mussolini fuhr, mussten wir Südtiroler Kinder am Bahnhof Spalier stehen und winken. Vater ging jeden Tag zum Konsulat, um zu fragen, ob er eine Landwirtschaft pachten könne. Dort traf er eines Tages Alois Krismer aus Wenns, der für seine Gerberei Arbeiter suchte. Sie wurden sich gleich einig und so zogen wir noch 1940 nach Wenns, wo wir bei der Familie Krismer wohnen konnten. 15 Jahre lang führte der Vater die Landwirtschaft, wir Kinder Die Familie Seebacher, angekommen in Wenns mussten nach der Schule oft am Hof und in der Gerberei helfen. Die Schulzeit in Wenns war für mich nicht schön, die anderen Kinder haben mich oft ausgelacht, weil ich mit der deutschen Grammatik solche Schwierigkeiten hatte, ich hatte diese bisher nur auf Italienisch gelernt. In den Ferien kam ein Bauer aus dem Paznauntal zu uns und fragte, ob nicht eine von uns Mädchen bei ihm zu Hause auf die Kinder schauen könnte. Der Lohn wäre 50 Reichsmark im Monat und zweimal im Jahr würde derjenige von Kopf bis Fuß vollständig eingekleidet. Ich meldete mich sofort freiwillig. Meine Mutter begleitete mich nach Habigen, Gemeinde See, aber als ich die schwarzen Holzhäuser sah, wollte ich gleich umkehren. Mutter bestand aber darauf, dass wir wenigstens guten Tag sagen müssten. Als wir in die Stube eintraten und ich eine Schüssel voll Kraut und gesottenem Fleisch am Tisch erblickte, wusste ich, da will ich bleiben, ganz egal, auch wenn die Häuser schwarz sind. Ich ging dort auch noch zur Schule, beaufsichtigte die Kinder und half im Haushalt mit. Es waren sehr nette Leute, besonders die Bäuerin war herzensgut. Einmal brachte der Briefträger den Lohn des Bauern, der bei der Zollwache war. Ich war allein mit den Kindern im Haus, also unter- schrieb ich und legte das Lohnsackerl auf die Kredenz. Als ich vom Wasserholen vom Brunnen zurück kam, wunderte ich mich, warum der kleine Schemel vor der Kredenz stand, vergaß es aber sofort wieder. Die Bauersleute wurden mit der Zeit immer komischer, waren auf einmal überhaupt nicht mehr nett zu mir und so wollte ich nach 18 Monaten nur mehr nach Hause. Dort angekommen, schickte mich meine Mutter sofort zur Beichte und sagte sehr ernst: „Aber dass du wirklich gar alles beichtest!“ Danach fragte sie mich, ob ich wohl auch gesagt hätte, dass ich vom Bauern den Lohn gestohlen hätte. Ich fiel fast aus allen Wolken und endlich war mir klar, warum die Leute dort so komisch wurden. Ich versicherte meiner Mutter hoch und heilig, dass ich das Geld auf die Kredenz gelegt und es dann ganz vergessen habe. So musste ich wieder ins Paznaun um diese Sache zu klären. Ich war totunglücklich und weinte den ganzen Weg. Aber als ich dort ankam, umarmte die Bäuerin mich ganz glücklich, sie hatten beim Wischen das Sackerl hinter dem Kasten gefunden. Der kleine Bub musste es wohl hinunter geschoben haben. Sie wollten, dass ich wieder bei ihnen auf dem Hof bleiben sollte und wollten mich sogar adoptieren. Ich konnte aber nicht bei Leuten bleiben, die mir so einen Diebstahl zutrauten.

Mit 16 Jahren besuchte ich einen Lehrbauernhof in Vorarlberg. Dort wurden die Lernwilligen ziemlich ausgenutzt, so musste ich zum Beispiel bis 11 Uhr nachts am Feld stehen und Türken hacken. Als ich die Krätze bekam, musste ich ins Spital. Nach dem Krankenhaus kehrte ich nach Hause zurück und half in der Landwirtschaft, bis ich schließlich als Dirne bei der Metzgerei Krug arbeiten konnte. Bald wurde ich Wirtschafterin in der Rose, wo ich auch meinen Lois kennen lernte. Während dieser Zeit war ich aktives Mitglied bei der freiwilligen Feuerwehr und dem Bund deutscher Mädchen. Lois ging dann nach Vorarlberg, er arbeitete als Holzer bei der Firma Pimpl und ich als Mädchen für alles bei den Meusburgers ebenfalls in Vorarlberg. 1955 heiratete ich mit 28 Jahren meinen Lois und wir bezogen eine Wohnung im Wenner Oberdorf. In den ersten Jahren begleitete ich meinen Mann nach Vorarlberg, wo ich für die Holzer kochte. 1957 bauten wir dann am Mühlhoppen unser Haus. Heute hat Gerda vier erwachsene Kinder, Günter, Angelika, Ilse und Isabella, und acht Enkel. Ihre Lieblingsbeschäftigung war immer das Nähen, das sie sich, der Not gehorchend, selbst beigebracht hat. Schlimm für sie war, als sie aus gesundheitlichen Gründen dazu nicht mehr in der Lage war. Besonders viel Freude bereitete ihr die Teilnahme an den regelmäßigen Wanderungen der Wandervögel, 20 Jahre marschierten sie gemeinsam durch die Landschaft und 10 Jahre lang waren sie jeden Winter am Reschen Langlaufen. Ihre Gesundheit ist nicht mehr die beste, so genießt sie jeden Tag als Geschenk vom lieben Gott. Auf die Frage, was sie sich am meisten wünscht, antwortete sie: „Wünschen tät ich mir, dass meine Kinder und Enkel keinen Krieg erleben müssen.“

Originalartikel aus der Wenner Gemeindezeitung